Beim souveränen 1:4-Sieg im Pokal wagte der BVB einen zweiten Anlauf mit der Doppelsechs Leitner-Gündogan.Der letzte Versuch dieser Aufstellung scheiterte im Supercup gegen die Bayern relativ rigoros und führte zu einer schnellen zwei-Tore-Führung des Rivalen. Leitner und Gündogan wirkten in diesem Spiel schlecht bis überhaupt nicht abgestimmt und führte zu wackeligen Anbindungen zwischen den Mannschaftsteilen und großen Löchern im Umschaltmoment. Die potentiell erhöhte Dominanz in Ballbesitz, welche die beiden außergewöhnlich ballsicheren Akteure einbringen können, war nur zu erahnen und konnte überhaupt nicht in Durchschlagskraft umgewandelt werden.
Die defensiven Nachteile der defensiven Sechs
Der Grund, weshalb Klopp überhaupt solch ein riskant erscheinendes Experiment unternimmt, liegt knapp gesagt im modernen Fußball. Der Verzicht auf den defensiven Sechser bedeutet auch Verzicht auf seine Schwächen, welche gegen modernes, pass- und musterorientiertes Ballbesitzspiel nicht nur offensiv zum Tragen kommen. Kleine, wendige Akteure haben auch defensiv ihre Vorteile.
So erlauben ihnen der bessere Antritt und die schnelleren Richtungswechsel, dass sie einen höheren Deckungsschatten erzeugen und somit besser Passwege verteidigen können, was ein zentrales Element des Dortmunder Spiels ist. Im aktiven Pressing ist ein großer Vorteil des BVB, wie sie bewusst Passwege zustellen oder gar belauern, also bewusst ein bisschen offen lassen, um den Pass dann abfangen zu können. Dadurch wird auch der Gegner verunsichert wird: Kann ich diesen Pass spielen, oder soll ich diesen Pass spielen?
Shinji Kagawas Spielweise war ein Musterbeispiel für den Vorteil, welchen Antritt und Beweglichkeit dabei bringen. Oft lief er in hoher Geschwindigkeit quasi mit Seitwärtsschritten den Gegner in einem Bogen an, wodurch ihm aus vollem Sprint eine plötzliche Beschleunigung in zwei Richtungen möglich war (Blickrichtung und Bewegungsrichtung), was einen massiven Vorteil beim Pressing erzeugte.
Solche Vorteile gegen kontrolliertes Spiel, könnten – gerade vielleicht gegen sehr spielstarke Gegner wie die Bayern – den körperlichen Vorteil, den Spieler wie Bender und Kehl im direkten Zweikampf haben, ausgleichen oder mehr. Defensivfußball basiert gerade in der Leistungsspitze und im Mittelfeldspiel immer stärker auf dem Abfangen von Pässen und dem Aufsammeln zweiter Bälle und weniger auf dem Gewinnen von Zweikämpfen. Auf wendigere Spieler zu setzen ist die logische Konsequenz daraus.
Umsetzung: Gündogan als flexibler Ankerpunkt
Die wichtigere Frage als die körperlichen und individuellen Aspekte sind daher die taktisch-psychologischen. Denkt das Team ausreichend defensiv und kontrolliert, wenn man zu viele ballverliebte Spieler auf dem Feld hat? Wenn beide Sechser zu aktiv den Ball fordern, während ihn nur einer bekommen kann, dann sorgt das für die skizzierten Probleme, welche den Dortmundern im Supercup auf die Füße fielen.
Dass die Umsetzung diesmal besser und stabiler funktionierte, hing zum einen mit der Entwicklung von Ilkay Gündogan zusammen, die er seit seinem Transfer auf die Sechserposition konsequent weiterführt. Bereits im Laufe der vergangenen Saison ist sein Bewegungsspiel klüger und kontrollierter geworden. Zwar hat er meist Kehl neben sich, der ihm diverse Freiheiten verschafft, aber die Aufteilung der beiden wird immer ausgeglichener. Gündogan wächst in die Rolle des Balancespielers herein und kann zunehmend seine Fähigkeiten einbringen, ohne dafür taktische Risiken eingehen zu müssen.
Diese Rolle musste er neben dem immer noch sehr freimütig umherdriftenden Leitner auch übernehmen und dies gelang ihm besser als beim ersten Versuch in München. Wie in der Szene rechts zu sehen, sorgte er zum einen für ausgeglichene Raumbesetzung, indem er stärker die Sechserräume hielt als Leitner, und hält zudem die Spieler untereinander verbunden. In der dargestellten Szene sicherte durch sein rechtsseitiges Verschieben torseitig ab und stellt gleichzeitig Kontakt zwischen Ball und Leitner her.
Perisic, Götze und die Wichtigkeit spielmachender Offensivakteure
Was sich ebenfalls schon in obiger Szene sehen lässt, ist die Bedeutung, die Spieler wie Perisic und Götze in solch einem System haben. Beide orientieren sich dort zum Ball hin und sorgen so dafür, dass das Zentrum nicht von Gündogan alleine besetzt ist. Zudem bewegt sich Perisic klug hinter Götze weiter, wodurch ein Ballverlust abgesichert wird und Götze eine risikolose, leichte Option bekommt. Das demonstriert bereits, wie sich die Freiheiten der Spieler ergänzen können und auch müssen. Wenn Perisic sich nach vorne orientiert hätte, hätten die Aalener Sechser bei einem Ballgewinn gegen Götze in Überzahl kontern können.

In dieser Szene rochiert Leitner in die Spitze während Perisic durch die Mitte gleitet und Götze unterstützend zurückfällt – fluid entsteht eine 4-3-3-Grundordnung, gegen die Aalen falsch positioniert ist.
Damit zeigt sich, wie wichtig es ist, bei einem so fluiden und ballbesitzorientierten Aufbauspiel, viele spielmachend denkende Akteure in den Reihen zu haben. Um freie Bewegungen dieser ermöglichen, benötigt man eine personelle Überladung der zentralen Zone, damit ausweichende und aufrückende Läufe nicht zur Unterladung führen – beispielhaft auch am Effekt von Messis falscher Neun bei Barcelona zu sehen, wodurch auch die Bewegungen von Xavi, Iniesta und Fabregas beeinflusst und befreit werden.
Erst so werden die vielfältigen Fähigkeiten, die ein technisch beschlagener Spieler wie Leitner auf die Sechserposition einbringen auch sinnvoll genutzt. In den vielen möglich werdenden Mustern und Verbindungen kann sich die Kreativität erst voll entfalten und somit über lokale Überzahlbildungen Momentum gegen den Gegner erzeugen. Ein klarer strukturiertes Aufbauspiel hemmt solche Freigeister und kann von disziplinierteren und auch technisch weniger sauberen Spielern wie Kehl besser umgesetzt werden.
Bewertung und Möglichkeiten
Gegen Aalen konnte unter der Nutzung der vielen Techniker das Zentrum des gegnerischen 4-4-2-Systems überladen werden und Dortmund konnte scheinbar spielerisch leicht die Mitte, damit das Spiel und auch den Gegner dominieren. Ein absolut souveräner 4:1-Sieg war die Konsequenz gegen den Zweitligisten. In einzelnen Konterszenen ließ sich die Anfälligkeit des Systems aber noch erahnen, was wegen Aalens individueller Unterlegenheit nicht augenfälliger wurde. Allerdings sind gegnerunabhängig große Fortschritte gegenüber des ersten Versuches in München erkennbar gewesen.
Gündogans ständige strategische Weiterentwicklung und die hohe Anzahl spielmachender Akteure, die der BVB hat und auch perspektivisch noch hinzubekommen wird (Bittencourt, Amini), machen dieses System ohne Abräumer zu einer spannenden Alternative. Möglicherweise entwickelt sich der BVB auf diesem Weg zu einer noch unvorhersehbaren Offensivmacht, die selbst Spitzengegner auch mit dem Ball so dominieren kann, wie sie es ohne Ball schon gegen Teams wie Manchester City, Bayern München und Real Madrid zeigten. Auch das Pressing könnte über Kraftschonung mit Ball eventuell noch intensiviert werden. Die Personalpolitik ist jedenfalls ein Fingerzeig in diese Richtung.